Ehem. Sackfabrik - jetzt Peer 23 in Mannheim

Ursprünglich war das eine florierende Sackfabrik, dann wurde die Halle von der „Margarine-Union“ als Ausbildungsabteilung genutzt. Jetzt sind dort Kreative eingezogen.

Die niedrigen Backstein-Gebäude wirken von der Wasserfront, als duckten sie sich von dem großen Nachbarn Pfalzmühle und den Sandbergen der ehemaligen Margarinefabrik weg. Die eingeschossigen Fabrikräume stehen auf einem grob behauenen Sandsteinsockel. Das Mauerwerk ist durch rote und gelbe Klinker strukturiert und nur sehr zurückhaltend dekoriert. Der Bogengiebel am Wasser ist das einzige Dekorelement. Die Front ist jedoch durch eine völlig rücksichtlose Befestigung von Leitungen verunstaltet.

An das Gebäude schließt sich eine einfache Fabrikmauer mit Stacheldrahtverhau an. Bemerkenswert sind die Fenster mit den vielen Sprossen und Flügeln zur Rheinrott-Straße.

Nutzung (ursprünglich)

Sackfabrik

Nutzung (derzeit)

"Ein Ort fernab von Mainstream und Konsumgesellschaft"

Geschichte

Der Stadtplan von 1913 zeigt das bebaute Gelände der Sackfabrik  Koppel & Temmler GmbH. Die Nachbarn sind die großen Pfälzischen Mühlenwerke und die kleine Estol, eine Margarinefabrik.

Koppel & Temmler produziert in der Rheinrottstr. 3 und 5: Säcke aller Art, Jutegewebe, Rohleinen, Segeltuche, Waggondecken, Deckenleihanstalt (Hafenführer1909). Es ist eine der großen Mannheimer Sackfabriken, von denen es mindestens 18 gab. Säcke und Abdeckplanen wurden damals auch noch repariert oder verliehen (heute ist das mit Europaletten der Fall).

Gegründet wird die Sackfabrik 1905 von Hermann Temmler und Paul Koppel. Sie ist zuerst ansässig in der Hansastraße 5 (neben Hutchinson), nach wenigen Jahren zieht sie um in die Rheinrottstraße 5. Die Firma Koppel & Temmler hatte Filialen in vielen anderen Städten: Mannheim Antwerpen Berlin Detmold, Düsseldorf, Halberstadt, München

Der Gründer Herrmann Temmler – ein Selfmademan

Hermann Temmler wurde 1876 als Sohn einer kinderreichen Arbeiter-Familie in Plauen geboren. Nach der Gründung der Sackfabrik im Jahr 1905 ging er 1917 zur chemischen Industrie über. Er erwirbt chemische Fabriken in Cannstadt, Wiesbaden, Detmold und 1925 in Berlin. 1928 kauft er die Aktienmehrheit der Sicco AG, die medizinisch-chemisch-technischen und pharmazeutischen Präparate herstellt. In der Chemie- und Pharmabranche wird Temmler äußerst erfolgreich.

„Amerikanische Propagandamethoden führen seine Fabriken zu bedeutender Blüte.“ Hermann Temmler war ein „Selfmademan in des Worte vollster Bedeutung!“ Vom kleinen Kaufmannlehrling zum Kommerzienrat und einem der Bekanntesten pharmazeutischen Industriellen. Er genoss als „temperamentvoller Kunstsammler, genussfreudiger Lebenskünstler und liebenswürdiger Gesellschafter Beliebtheit und Ansehen.“ Er starb mit 53 Jahren im Jahr 1929.  (https://de.wikipedia.org/wiki/Temmler)

Die große Nachfrage nach Sandsäcken  für den Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg bringt das Sackgewerbe zum Blühen. K&T weitet sich auf die Rheinrottstraße 1-5- aus. Das bleibt auch nach dem Ersten Weltkrieg so. Die Luftaufnahme von 1933 zeigt das noch heute existierende Eckgebäude zum Altrhein, daneben einen wesentlich größeren Komplex von zwei bis dreistöckigen Gebäude und auf der rechten Seite ein langes Band von eingeschossigen Werkhallen mit einigen wenigen Oberlichtern. Zur Wasserfront hin gibt es zwei Tore. Die letztgenannten  Bauten gibt es nicht mehr. Sie wurden im 2. Weltkrieg weitgehend zerstört (siehe Plan von der Kriegszerstörung).

NS-Zeit: mangelnde Rohstoffzuweisung

Paul Koppel und der Nachfolger von Hermann Temmler, Ludwig Gottschalk, waren jüdisch. Das spielte in den Jahren bis 1933 keine Rolle. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wird jedoch der als „jüdisch“ gebrandmarkten Firma von der „Überwachungsstelle für Bastfasern“ immer weniger Jute zugeteilt, sodass sie  fast zugrunde geht. 1937 hatte die Überwachungsstelle monatlich 180.000 kg Jutefaser zugeteilt, 1938 waren es nur noch 86.000 kg, also etwa die Hälfte an Rohstoff. Die Besitzer Paul Koppel und Ludwig Gottschalk hatten damals ca. 50 Beschäftigte. Im Jahr 1938 sind sie zum Verkauf weit unter Wert an „arische“ Käufer gezwungen. Paul Koppel kann mit Frau und Tochter noch nach New York auswandern.  Das Schicksal von Ludwig Gottschalk ist nicht bekannt.

Die „arischen“ Käufer sind langjährige Angestellte der Firma: Karl Baumann, Karl Korn, Karl Friedrich Weber und Otto Koch. Sie wissen, dass die Firma mit so weniger Rohstoff zugrunde geht und machen die Übernahme davon abhängig, dass wieder normale Rohstoffzuteilung erfolgt. Mit Erfolg. Sogar das badische Finanzministerium setzte sich dafür ein und schaltete das Reichswirtschaftsministerium ein.

Nach der Arisierung im Mai 1938

Die jüdischen Beschäftigten mussten zum nächstmöglichen Zeitpunkt entlassen werden, das stand im Kaufvertrag. Auch die Filialen in den anderen Städten wurden mitgekauft. Zunächst war das Grundstück nur gepachtet. Es wurde im September 1938 erworben.
Die Firma behält zunächst ihren alten Namen. Sie machen damit sogar umfangreiche Werbung in den Mannheimer Adressbüchern, auch noch 1941/42. Erst seit 1949 wird die Firma als „Korn & Weber - Säcke, Zelte“ geführt, ansässig in der  Rheinrottstraße 3-5.

1960 ist Karl Korn offenbar aus der Firma ausgeschieden und die Firma „Karl Weber“  hat sich verkleinert auf die Rheinrottstraße 3. Die Nr. 3a-5 geht an die Margarine Union, die hier die Ausbildungsabteilung einrichtet. Vermutlich hat die Margarine Union die mehrstöckigen Häuser der Sackfabrik durch einen modernen Gebäudekomplex ersetzt – dessen 60er-Jahre-Anmutung legen das nahe.

Die Firma „Planenweber“ ist heute noch in der Rheinrott-Straße anzutreffen, mit einem erstaunlich breiten Angebot von Abdeckungen. Die Margarine Union hingegen hat 2001 die Produktion eingestellt. Das Gelände wurde von dem Recyclingunternehmen Gebr. Bührer gekauft, das die letzten alten Gebäude der Sackfabrik an den Verein Peer 23 e.V. vermietet.

Peer 23

haben die jungen Leute des Vereins das Gebäude am Industriehafen genannt. „Ein Platz für alle, die auf der Suche nach einem bewussten Leben sind. Eine Plattform für die Subkultur. Fernab von Mainstream und Konsumgesellschaft“. So heißt es auf der Webseite des Vereins. In den alten Fabrikräumen und dem Hof geht es bunt und lebendig zu. Und an Wochenenden steigen hier tolle Musik-Events. Peer 23 stellt sich auf seiner Webseite so vor:

„Peer23 e.V. ist ein Non-Profit Verein der 2013 gegründet wurde. Dahinter steckt vor allem die Idee sozial und kreativ tätigen Menschen unkompliziert Arbeitsplätze, Ateliers, Werkstätten und Seminarräume bereitzustellen“.

Quellen:
Eigentümer
Büherer Gruppe, Mannheim
Erbauer
Temmler und Temmler
Autor*in
Barbara Ritter
Objektnummer
363
Adresse
Rheinrottstraße 5
68169 Mannheim
Geo
49.5103878, 8.4566092
Öffnungszeiten

Von Außen ist das Gebäude immer zu besichtigen;  im Hof und von Innen nur bei Veranstaltungen.

Denkmalschutz
Nein
Barrierefrei
Nein
In den Hof kommt man ebenerdig