Arbeitersiedlungen in Mannheims Norden

Wo sollen die denn alle wohnen?

… und vor allem: wie? Die Frage stellte sich sehr schnell nach dem Entstehen der ersten Fabriken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Einwohnerzahl Mannheims aufgrund der guten Beschäftigungsmöglichkeiten sprunghaft anstieg. Schon 1848 hatte Friedrich Engels die verheerende Wohnsituation der Textilarbeiter in Manchester eindringlich beschrieben, und seitdem war die Schaffung angemessener Wohnmöglichkeiten für Arbeiter und ihre Familien ein Thema nicht nur für die Fabrikeigentümer, sondern auch für Architekten, Stadtplaner und Ministerien in ganz Europa. Die vorgeschlagenen Lösungen bewegten sich zwischen zwei Extremen:

  • einer „Spar-Variante“ des großbürgerlichen Wohnhauses, z.B. der auf der Weltausstellung 1900 preisgekrönte Entwurf der Farbwerke Hoechst. Auch das erste explizit als Arbeiterwohnhaus entworfene Gebäude, das 1851 auf der Londoner Weltausstellung vorgestellte Prince Albert's Model Cottage, fällt in die Kategorie: „Jedem Arbeiter sein eigenes Reich“. Mit anderen Familien unter einem Dach zu leben, war vor der Industrialisierung ausgesprochen unüblich. Schon Häuser mit 6 Parteien wurden z.B. von Oberbürgermeister Otto Beck als „Mietskasernen“ bezeichnet.
  • Sogenannte „Arbeiterpaläste“, z.B. das Familistère des Gussofen-Fabrikanten Godin in Guise/Frankreich, in denen Hunderte von Familien nicht nur wohnten, sondern auch vielfältige Gemeinschaftseinrichtungen nutzen konnten und auch außerhalb der Arbeit eine Gemeinschaft bildeten.

Auf unserer Radtour lernen wir Varianten kennen, die zwischen diesen beiden Extremen liegen. Typische Elemente, die uns immer wieder begegnen, sind:

  • "Jutesiedlung, Lageplan um 1920 (westlich begrenzt durch das Mädchenwohnheim, östlich begrenzt durch zwei Gruppenhäuser)"
    Jutesiedlung, Lageplan um 1920 (westlich begrenzt durch das Mädchenwohnheim, östlich begrenzt durch zwei Gruppenhäuser)
    Die Kreuzhaus-Bauweise, auch „Mülhauser Modell“ genannt, weil sie dort zum ersten Mal umgesetzt wurde (Beispiele: Jutesiedlung, Zellstoffsiedlung): Vier eingeschossige Häuser werden in einem mehr oder weniger quadratischen Block so aneinander gebaut, dass jeweils eine Rückwand und eine Seitenwand an die anderen Häuser anschließen und diese Brandwände insgesamt ein Kreuz bildeten. Das spart Baumaterial, aber es gibt einige Nachteile:
        – Man kann nicht so gut lüften.
        – Von den vier Häusern hat immer nur eines eine gute Lage, was Sonnenlicht betrifft.
    Dies führte zu häufigen Umzügen innerhalb der Siedlungen, sobald eines der „guten“ Häuser frei wurde.
  • Niedrige Decken (Beispiele: Jutekolonie, Spiegelkolonie): Mitte des 19. Jahrhunderts war die allgemein übliche Deckenhöhe 3 Meter. Um Material zu sparen, wurde die Deckenhöhe auf 2,50 m reduziert.
  • Kleintierställe und Nutzgärten (Beispiele: Papyrussiedlung, Zellstoffsiedlung, Bopp & Reuter-Siedlung, Spiegelkolonie): Oft gehörten zu den Wohnungen relativ große Grundstücke, sodass sich die Mieter einen Teil ihrer Lebensmittel selbst heranziehen konnten. Manche Arbeiter hatten darüber hinaus noch Zugang zu landwirtschaftlichen Grundstücken, die sie bzw. ihre Familienangehörigen zur Selbstversorgung oder für einen Zusatzverdienst nutzten.

Und wer bezahlt das?

Die Siedlungen unterschieden sich auch hinsichtlich der Trägerschaft und Finanzierung. Typischerweise übernahm der Fabrikbesitzer den Bau und Unterhalt und überließ die Wohnungen den Arbeitern zu einem vergleichsweise niedrigen Mietpreis, der aber immer noch eine Rendite gewährleistete. Der „soziale Aspekt“ reduzierte sich auf die Differenz zu den möglichen Erlösen, die man bei einer Vermietung auf dem freien Markt erzielt hätte, z.B. 4 % statt 7 %. 1886 scheiterte die Stadt Mannheim mit dem Versuch, Investoren zum Einsteigen in eine Wohnbaugesellschaft zu bewegen, da sie nur 3 % Rendite in Aussicht stellte.

Für die Fabrikbesitzer ergaben sich verschiedene Vorteile:

  •  Die Siedlungen konnten in unmittelbarer Nähe zu den überwiegend direkt am Rhein, außerhalb Mannheims gelegenen Fabriken angelegt werden. Öffentlicher Nahverkehr existierte damals noch nicht. Viele Arbeiter nahmen Fußmärsche von einer Stunde oder mehr auf sich. Produktion rund um die Uhr oder zumindest rasches Eingreifen bei Unfällen war so kaum möglich. Erst ab 1900 fuhr die erste Bahn in Richtung Sandhofen. Die Strecke wurde von einer Tochter der Zellstofffabrik errichtet, die zuvor einen „Shuttle-Service“ per Kutsche in die Umlandgemeinden betrieben hatte.
    Durch die Nähe der Siedlung zum Betrieb hatte der Arbeitgeber oft auch unmittelbare Einsicht in das Privatleben der Mitarbeiter und konnte eine gewisse Kontrolle ausüben. Die Spiegelkolonie hatte z.B. einen eigenen Wachdienst, der alle Vorfälle dem Fabrikdirektor meldete. Andererseits empfahlen die Lehrer besonders schlaue Schüler für eine Ausbildung im Büro.
  •  Der Fabrikbesitzer hatte durch das Wohnungsangebot einen Vorteil im Wettbewerb um Arbeitskräfte. Dies war besonders wichtig bei den Facharbeitern, Meistern und Technikern; diese Gruppe kam am häufigsten in den Genuss der günstigen Wohnungen. Wo auch ungelernte Arbeitskräfte in der Nähe der Fabrik untergebracht werden mussten, geschah dies in der Regel in Schlafsälen. Die meisten Projekte waren keinesfalls darauf angelegt, der gesamten Belegschaft werkseigene Wohnungen anzubieten. Am nächsten kommt diesem Ziel die Spiegelkolonie in den Anfangsjahren.
  •  Wer den Arbeitsplatz wechseln wollte oder gekündigt wurde, verlor gleichzeitig auch die Wohnung mit allen Rechten auf die Gemeinschaftsanlagen. Durch diese Abhängigkeit konnten sich die Fabrikeigentümer mehr Wohlverhalten sichern – sehr wichtig in Zeiten zunehmender Politisierung der Arbeitnehmerschaft. Auch Kinder, die in einem anderen Betrieb eine Stellung antraten, waren z.B. in der Spiegelkolonie nur noch als gelegentliche Übernachtungsgäste zugelassen.

Es gab auch Modelle, bei denen der Arbeiter mit seinen Zahlungen nach und nach das Eigentum an seinem Häuschen erwerben konnte, z.B. in der von der Gemeinnützigen Baugesellschaft errichteten Kleinfeldsiedlung am Neckarauer Übergang. Leider klappte dies nicht; die Häuser gingen wieder an die Gesellschaft zurück. Die Zellstofffabrik bot ihren Arbeitern günstige Kredite zum Erwerb von Wohneigentum außerhalb der Siedlung an. Dies verstärkte natürlich die Abhängigkeit.

Nutzung (ursprünglich)

Arbeitersiedlungen

Geschichte

Wie haben die Arbeiter gelebt, die nicht in einer Siedlung unterkamen?

1913 gab es 47.638 Wohnungen in Mannheim, davon waren nur ca. 1.700 Werkswohnungen. Selbst in den Hoch-Zeiten des Arbeitersiedlungswesens waren nur etwa 7 % der Arbeiterschaft Mannheims (1907: 32.345 Personen, 1913: 49.576) in Werkssiedlungen untergebracht. Hauptgrund war sicher das mangelnde Angebot. Aber abgesehen davon war auch ein Leben weitab vom Stadtzentrum, in Abhängigkeit von und oft direkt unter den Augen des Arbeitgebers und in ständiger Nähe zu den Kollegen, trotz aller materiellen Vorteile nicht für alle erstrebenswert.

Die Wohnsituation der Arbeiter außerhalb der Siedlungen war allerdings deutlich schlechter: Durch den starken Zustrom an Wohnungssuchenden Mitte des 19. Jahrhunderts war es für Hausbesitzer rentabel, ihre Grundstücke so dicht wie möglich zu bebauen und die vorhandenen Räumlichkeiten in möglichst kleine Einheiten aufzuteilen. Die einzigen relevanten Vorschriften der Bauordnung betrafen die Fassade (musste zu den älteren Häusern passen und war daher oft barock-verschnörkelt). Oft mussten ganze Familien in einem einzelnen Zimmer leben, wo dann auch gekocht wurde. Die Wasserversorgung erfolgte bis Ende der 1880er Jahre aus Brunnen, mit dem Bau der Kanalisation wurde erst 1890 begonnen. Bei solchen Verhältnissen verwundert es nicht, dass die Mieter, sobald sie es sich irgend leisten konnten, in eine bessere Wohnung umzogen. Dadurch gab es viel Unruhe und Leerstand, sodass der Immobilienmarkt insgesamt für potenzielle Investoren weniger attraktiv war als andere Branchen.

Ein Teil der Arbeiter waren alleinstehende junge Männer. Diese konnten sich oft keine eigene Wohnung leisten, sondern suchten sich nur einen Schlafplatz, in einem der Schlafsäle in den Arbeitersiedlungen, öfter aber bei einer Familie, wo sie manchmal auch Verpflegung mitbuchen konnten. Oft wurde dasselbe Bett schichtweise an mehrere „Schlafgänger“ untervermietet. Bei der BASF gab es z.B. die Regel, dass 4 zusätzliche Personen in eine Wohnung von 40 Quadratmetern aufgenommen werden durften, solange die Gesamtpersonenzahl 9 nicht überstieg. Die Überbelegung der Wohnungen verschärfte nicht nur die hygienischen Verhältnisse, sondern musste auch als „Beweis“ für einen allgemeinen Sittenverfall herhalten, da z.B. Räume, die als getrennte Kinderschlafzimmer für Jungen und Mädchen vorgesehen waren, zur Untervermietung zweckentfremdet wurden. Auch vermutete man unter den nicht gemeldeten Untermietern kriminelle Personen. 1904 wurde das Schlafgängertum durch eine städtische Verordnung inklusive Genehmigungs- und Meldepflicht geregelt. 1905 und 1906 wurden 6818 solche Genehmigungen erteilt.

Was hat die Politik unternommen?

Schon 1857 machte der Mannheimer Gemeinderat einen Vorstoß, auch von städtischer Seite etwas gegen die Wohnungsnot zu tun. Sein erster Vorschlag zur Gründung einer Wohnbaugesellschaft stieß jedoch bei den potenziellen Investoren auf kein Interesse. Der nächste Vorstoß resultierte 1868 in der Gründung der Gemeinnützigen Baugesellschaft, die ein Minimum an Kapital zusammenbrachte und bis 1873 im Kleinfeld am Neckarauer Übergang zunächst ein großes Mietshaus und einige Reihenhäuser erstellte. Der weitere Ausbau scheiterte jedoch 1886, wiederum an Geldmangel, da die Stadt den Investoren nur 3 % Rendite anbot. Ein weiterer Versuch 1892 scheiterte am Widerstand der Haus- und Grundbesitzer, die in der städtischen Aktivität unerwünschte Konkurrenz sahen und im Stadtrat ihre Zustimmung verweigerten. Die Gemeinnützige Baugesellschaft wurde 1898 liquidiert und die Siedlungen gingen in den Besitz der Stadt über.
Aufgrund des Widerstands gegen eigene Bauaktivitäten versuchte die Stadt stattdessen, das Wohnungswesen durch Gesetze und Verordnungen zu beeinflussen. Die wichtigsten sind:

  • 1879 und 1892 Änderung der Bauordnung mit Vorgaben der maximalen Gebäudehöhe in Abhängigkeit von der Straßenbreite (bestehender Bestand wurde aber nicht angegriffen),
  • 1887 Einführung von baupolizeilichen Wohnungsinspektionen,
  • 1898 Ausdehnung der Bauordnung auf eingemeindete Orte und Begrenzung der maximal bebaubaren Fläche,
  • 1901 werden Abort, Wasser- und Abwasseranschluss vorgeschrieben, Stockwerkhöhe mindestens 3 Meter
  • 1904, 1908, 1911 Regelung des Schlafgängerwesens

Ab 1889 war es in Deutschland möglich, Einnahmen aus der neuen Alters- und Invaliditätsrente zur Finanzierung von Bauvorhaben zu verwenden, und die Baugenossenschaften schossen aus dem Boden. 1895 wurde der Mannheimer Bau- und Sparverein gegründet und erbaute mehrere Mehrparteien-Wohnhäuser in der Schwetzingerstadt und Neckarstadt. Mitglieder erwarben einen Anteilsschein für 300 Mark, der in winzigen Schritten abgestottert werden konnte.

1899 ließ die Stadt für ihre eigenen Beschäftigten die Siedlung an der Schlachthofstraße erbauen (ebenfalls nahe Neckarauer Übergang), vorbildlich in der Ausstattung aber trotzdem nicht sehr attraktiv für Mieter wegen a) der Lage und b) dem Verbot der Untervermietung, bei gleichzeitig nicht sonderlich günstigen Mieten, c) verschiedenen Baumängeln, die erst später zutage traten. Für die Stadt ein Minusgeschäft.

1910 beteiligte sich die Stadt an dem genossenschaftlichen Projekt „Gartenstadt“, indem sie die Kosten für die Erschließung des Geländes übernahm und der Genossenschaft ein Darlehen zum Bau der ersten Häuser gewährte. Der Bau der Gebäude musste ansonsten von der Genossenschaft selbst getragen werden. Dies gelang mit sehr viel Eigenleistung der Genossenschaftsmitglieder. Im Vertrag zwischen Stadt und Genossenschaft war festgelegt, dass 80% der Wohnungen an Arbeiter, Handwerker, gering besoldete Beamte u.ä. vergeben werden mussten.

Nach dem Ersten Weltkrieg gab es schließlich keine Einwände mehr gegen eigene Bauvorhaben der Stadt, und diese erstellte bis 1926 in Eigenregie die Siedlung am Reiherplatz in Käfertal, die Siedlungen „An den Kasernen“, „Schafweide“ (beide Neckarstadt), und unterstützte die genossenschaftlichen Projekte am Almenhof, am Kalmitplatz und am Eberbacher Platz in Feudenheim. Für die eigenen Mitarbeiter entstand 1921 die Gaswerksiedlung. 1921 gründete die Stadt die Gemeinnützige Mannheimer Baugesellschaft, die Mietshäuser am Waldparkdamm auf dem Lindenhof und in der Langen Rötterstraße errichtete. Diese scheiterte jedoch wiederum an der Finanzierung und wurde 1924 aufgelöst.

1926 gründete die Stadt zusammen mit der Sparkasse die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Mannheim (GBG). Heute (2021) leben etwa 13% der Einwohner Mannheims in Wohnungen der GBG.

Das Thema Arbeitswohnungswesen wurde auch wissenschaftlich begleitet: 1891 führte Friedrich Wörishoffer im Auftrag der Großherzoglichen Innenministeriums eine umfassende Erhebung durch „Die sociale Lage der Fabrikarbeiter in Mannheim und dessen nächster Umgebung“. Wörishoffer hatte in Heidelberg bei Max Weber studiert, und seine Untersuchungen gilt als einer der ersten, vorbildlich durchgeführten Sozialerhebungen. Die Untersuchung beinhaltet nicht nur umfangreiche Statistiken, sondern auch detaillierte Fallbeispiele zu den Lebensumständen der damaligen Arbeiterschaft und stellt klar heraus, dass die Arbeiter in den Werkssiedlungen deutlich besser wohnten als der Durchschnitt.

Oberbürgermeister Otto Beck verfasste während seiner Amtszeit (1891-1908) zwei Denkschriften zur Wohnungslage in Mannheim mit viel statistischem Material.

In der 1906 erschienenen Erstausgabe des Werks „Mannheim und seine Bauten“, herausgegeben vom Regierungsbaurat August Eisenlohr, sind Arbeitersiedlungen noch nicht erwähnt. Dies erfolgt erst in der Neuauflage von 2005; Autorin des Kapitels ist Monika Ryll.

1912 promovierte Paul Gerhard in Heidelberg zum Thema „Die Entwicklung der Mannheimer Industrie von1895 bis 1907 und ihr Einfluss auf das Wohnungswesen“. Das Werk enthält umfassende Statistiken zur Entwicklung von Betriebsgrößen, Wohnungsgrößen, Arbeiter- und Bevölkerungszahlen und Mietpreisen in den verschiedenen Stadtteilen.

1921 veröffentlichte Stadtbaurat Roland Eisenlohr „Das Arbeitersiedlungswesen der Stadt Mannheim“. Er dokumentierte sehr detailliert die bauliche Gestaltung der Gebäude und Räumlichkeiten und kommentierte sie aus seiner Sicht.

2012 schließlich erschien das unglaublich detaillierte Werk von Ferdinand Werner: „Arbeitersiedlungen und Arbeiterhäuser im Rhein-Neckar-Raum“, Viele der hier wiedergegebenen Informationen, einschließlich der zitierten Zahlen, stammen aus diesem Buch. Sehr zu empfehlen für jeden, der sich tiefer mit der Materie beschäftigen will.

Quellen:
Autor*in
Kornelia Junge
Objektnummer
398
Adresse
68307 Mannheim

Where are they all supposed to live?

... and above all: how? The question arose very quickly after the emergence of the first factories in the second half of the 19th century, when Mannheim's population grew by leaps and bounds due to the good employment opportunities. As early as 1848, Friedrich Engels had vividly described the devastating housing situation of textile workers in Manchester, and since then the creation of adequate housing for workers and their families has been a topic not only for factory owners but also for architects, urban planners and ministries all over Europe.

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